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Der Gang des Menschen – Pionierleistungen der Wissenschaft

Der Übergang von der allgemeinen „Naturkunde“ oder „Naturlehre“ zu den klassischen Naturwissenschaften war von immenser Bedeutung für die gesamte Forschung und Lehre im 19. Jahrhundert. Er ermöglichte eine interdisziplinäre Bewegung umfassender Art: die naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin und der Psychologie. Das Ganze war eingebettet in einen Aufstieg der experimentellen und theoretischen Physik – ihrer methodischen und inhaltlichen Möglichkeiten.

Die Gebrüder Weber, Ernst, Wilhelm und Eduard sowie Gustav Theodor Fechner prägten diese wissenschaftliche Entwicklung an den mitteldeutschen Universitäten Leipzig, Halle und Göttingen durch ihre Pionierleistungen entscheidend mit. Wilhelm Eduard (18041891), der ehemalige Hallenser und bedeutende Physiker, ein Freund des berühmten Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß in Göttingen, und der Anatom an der Leipziger Universität, Eduard Friedrich (18061871), gaben 1836 ihr Gemeinschaftswerk „Die menschlichen Gehwerkzeuge“ heraus, die erste exakte mechanische Beschreibung zum Gang des Menschen. Inspiriert und gefördert wurden diese fächerübergreifende Forschungen durch den Ältesten der Weber-Brüder, ein Freund Alexander von Humboldts in Berlin, den Leipziger Anatomen und Physiologen Ernst Heinrich Weber (17951878). Auch der Leipziger Physiker, Psychologe und Philosoph G. Th. Fechner (18011887) widmete sich kurzzeitig direkt diesem Thema. Er beobachtete von seinem Fenster in der Dresdner Straße aus die Spaziergänger und analysierte die Unterschiede der Schrittlängen im weiblichen und männlichen Gang.

Die Webers entwickelten zur Beschreibung des menschlichen Ganges eine einfache Pendeltheorie. Danach wird die Bein- durch eine Pendelschwingung approximiert. Die Muskelbewegung hat in diesem Modell nur die Funktion, den Gang des Menschen zu ermöglichen. Der Vergleich der mit einfachen Formeln ermittelten theoretischen Werte (Zentimetergenauigkeit) mit den Beobachtungen (Meßinstrumente: Tertienuhr und Fernrohr) wurde mit Anpaßparametern durchgeführt. Mit einem verbesserten „Lebensrad“ des Engländers Horner zur Darstellung bewegter lebendiger Bilder demonstriert sie die erstaunliche Übereinstimmung in sehr anschaulicher Weise.

Tafel: Der Gang des Menschen - Pionierleistungen der Wissenschaft

Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen nutzten die „Pioniere der physikalischen Physiologie“ nicht nur für physiologische und anatomische Anwendungen, sondern sie vermittelten auch Hinweise zum Marschieren, für das Gewerbe und die Künste. Insbesondere die Ausbildung im Zeichen in den Malschulen sollte eine weitere Fundierung erhalten – über das Erbe da Vincis hinausgehend. Darüber hinaus bereiteten die Gebrüder Weber mit ihren elektromagnetischen Reizversuchen am Herzen einer Herzdynamik (Grundlage: ihre 1825 publizierte „Wellenlehre“), ihren Versuchen zur Muskel-, Nerverdynamik und zum Innenohr die erweiterte Ganganalyse vor.

Fortgesetzt wurden diese Arbeiten von einem Neffen Wilhelm Webers, dem Leipziger Anatomen Wilhelm Webers, dem Leipziger Anatomen Wilhelm Braune (18311892), und dem Mathematiker und Mediziner Otto Fischer (18611916). Ihr bahnbrechendes Werk auf dem Gebiete der anatomisch-physiologischen Mechanik „Der Gang  des Menschen“ erschien 1895 – vor hundert Jahren. Sie testeten die Webersche Pendeltheorie mit der vom Pariser Physiologen Marey 1873 eingeführten Chronophotographie (zur Markierung wurden Geißlerröhen verwendet), da weiterführende Berechnungen zum Doppelpendel nicht vorhanden waren.

Zuvor hatten sie den typischen Wanderschritt mit Probanden vom 8. Infanterieregiment Prinz Johann Georg Nr. 107 auf einem 1 km  langen Waldweg in der Nähe von Leipzig analysiert. Dabei beachteten sie auch die von Vierordt mit seinem Abdruckverfahren ermittelten Asymmetrien im Verhalten der beiden Beine während des Gehens.

Abb. rechts oben: Bildliche Darstellung des Gehens und des Eillaufs (aus „Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge“, 1836)

Abb. links unten: Successive Stellungen des rechten Beins im Verlauf eines Doppelschrittes nach Angabe der Brüder Weber (aus: „Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge“)

O. Fischer fand Grenzen der genannten Theorie und bestimmte den Anteil der Muskulatur als Energiequelle für die Beschleunigung bzw. Verzögerung des Unterschenkels. Zur Veranschaulichung seiner Ergebnisse benutzte der „Meister der Gelenk- und Muskelmechanik“ einen „Schwerpunktshampelmann“. Gemeinsam mit W. Braune hatte er auch 1885 zum ersten Mal eine Gelenkbewegung (und zwar die Bewegung der Speiche gegen die Elle) in streng mathematischer Weise untersucht. Die schon dreidimensionale Beschreibung der Gelenk- und Körperbewegung und die Millimetergenauigkeit der Messungen sind auch heute noch über alle Zweifel erhaben. Allerdings gibt es Zweifel an Fischer's Postulat eines Normalganges. Dies hat 1973 Otto Bock erhoben, denn dieses Normal steht der weiteren Analyse der Gangphänomene und der vermuteten Individualität des menschlichen Ganges entgegen.

Bernstein (Moskau) entwickelte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine breit gefächerte Technik zur kinematischen Messung. 1940 benutzte Scherb (Schweiz) zur Analyse der Muskeltätigkeit die Elektromyographie (EMG).

1953 gelang Saunders (Kalifornien) die Beschreibung des minimalen Energieumsatzes beim Gang des Menschen.

1965/66 erarbeitete Paul die erste konkrete Analyse der Kräfte im Hüftgelenk, im Knie und im Fußgelenk während des Gehens.

In den 70er Jahren gab es große Verbesserungen in den Meßmethoden (Elektronik, Computertechnik).

Im Werk „Das menschliche Gehen“ (1981) von Inman (Kalifornien) sind die neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Ganganalyse zusammengefaßt.

1991 erschien von Whittle eine populäre Einführung zu dieser Thematik, die „Gait Analysis“.

Abb. Meßgerät für den Verbrauch von Atemgasen (Luft oder reiner Sauerstoff) bei der Untersuchung des Stoffwechsels im Zusammenhang mit dem Gang des Menschen (Leihgabe vom Carl-Ludwig-Institut für Physiologie, Leipzig)


© 2015  Dr. Uwe Renner