2 Historische Anmerkungen
Die Problematik mit der sich Sommerfeld auf Anfrage von W. Wien befaßte, hat ihre Wurzeln in den Untersuchungen zur Dispersion in optischen Medien. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden viele Stoffe hinsichtlich der Abhängigkeit des Brechungsindex von der Wellenlänge untersucht und Anstrengungen unternommen, die Ergebnisse mit parametrisierten Formeln für einen großen Wellenlängenbereich in Einklang zu bringen (A. L. Cauchy, W. v. Sellmeier). Besonders erfolgreich war jedoch das von H. A. Lorentz gemeinsam mit P. Zeeman entwickelte elektrodynamische Modell des gedämpften Resonators, das neben dem Brechungsindex auch die Absorption der Strahlung berücksichtigt. Auf dieses bezieht sich Sommerfeld in seinen Berechnungen.
In manchen Stoffen, insbesondere in Farblösungen wie Fuchsin aber auch in Dämpfen von Gasen
[2], wurden Abweichungen vom
normalen Dispersionsverhalten — der Brechungsindex nimmt mit wachsender Wellenlänge ab — beobachtet und als
anomale Dispersion bezeichnet. Es kann sogar vorkommen, daß in solchen Stoffen in einem gewissen Wellenlängen- bzw. Frequenzbereich, in der Umgebung des Absorptionsmaximums, der Brechungsindex kleiner eins und somit die Phasengeschwindigkeit, die man herkömmlich als die „Lichtgeschwindigkeit” im Medium bezeichnet, größer als die Vakuumlichtgeschwindigkeit wird.
Anfang des 20. Jahrhunderts war keineswegs klar, wie sich eine bestimmte Wirkung, eine Störung bzw. ein Signal über elektromagnetische Wellen ausbreitet. Ein Signal ist nach
Sommerfeld durch den plötzlichen Übergang aus einem Zustand der „Ruhe” mit verschwindender Intensität in einen Zustand meßbarer Intensität charakterisiert, z. B. in eine gleichmäßige Folge von Sinusschwingungen. Zur Charakterisierung der Ausbreitung von Wellen kannte man bislang die Phasengeschwindigkeit, die insbesondere die meßbaren optischen Effekte im Zusammenhang mittels Brechungsindex beschreibt, sowie die Gruppengeschwindigkeit, welche die Ausbreitung akustischer Schwingungen und allgemein der Energie charakterisiert. Die beobachteten Anomalitäten beim optischen Brechungsverhalten einiger Stoffe in gewissen Wellenlängenbereichen können Geschwindigkeiten größer als die Vakuumlichtgeschwindigkeit bewirken, was Fragen zur Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Signalen in diesen aufwirft. Denn dies widerspräche der (speziellen) Relativitätstheorie von
Einstein. Auf diesen Einwand von
Wien bezieht sich
Sommerfeld in einem Artikel im Jahre 1907
[5], in dem er zunächst auf die kurz zuvor erschienene Arbeit
Einsteins zur „Trägheit der Energie”
[4] verweist. Danach ist
„Überlichtgeschwindigkeit unter allen Umständen unmöglich, sowohl als Konvektionsgeschwindigkeit einer Ladung, wie auch als Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer elektrodynamischen Störung”. Wie
Einstein zeigt, hat die Annahme einer möglichen Wirkungsausbreitung größer als die Lichtgeschwindigkeit (im Vakuum) die mit der Erfahrung unvereinbare Folge, daß die Wirkung vor der Ursache eintritt.
Da die Phasengeschwindigkeit wegen der möglichen Überlichtgeschwindigkeit in anomal dispersiven Medien zur Beschreibung der Signalausbreitung ungeeignet und die Gruppengeschwindigkeit keine sinnvolle Größe zur Beschreibung monochromatischer Wellen ist und sogar größer als die Phasengeschwindigkeit werden kann, führte
Sommerfeld unter Anerkennung der
Einsteinschen Relativitätstheorie den neuen Begriff der
Signalgeschwindigkeit ein. Man soll
„darunter diejenige Geschwindigkeit verstehen, mit der ein plötzlich einsetzendes Signal, d. h. eine Folge von elektrodynamischen Schwingungen bestimmter Wellenlänge, von einem Beobachter im Inneren des dispergierenden Mediums wahrgenommen wird”. Für die Signalgeschwindigkeit fordert er unabhängig vom Medium, daß sie niemals größer als die Vakuumlichtgeschwindigkeit und für einen idealen Detektor mit unendlicher Empfindlichkeit
gleich dieser ist. Sie ist von der Phasengeschwindigkeit verschieden. Zudem verweist er hinsichtlich der Wechselwirkung mit den Elektronen auf eine Arbeit von
M. Laue [3]:
„Die Elektronentheorie führt also zu dem Schluß, daß elektrodynamische und optische Wirkungen sich in der Materie höchstens mit der Geschwindigkeit v [Anm.: die Lichtgeschwindigkeit]
fortpflanzen” kann. Am Ende seines Beitrags folgt ein skizzenhafter Beweis für einen senkrecht auf den Rand eines Mediums einfallenden Rechteckimpuls, den man sich als
Fouriersches Integral dargestellt denken kann und der sich mit den
Cauchyschen Methoden der komplexen Ebene behandeln läßt. Das zeitliche Verhalten des Signals läßt sich in drei Intervallen beschreiben. Im wirksamen Zeitintervall des Impulse stellt sich das Signal im Inneren aus zwei Teilen dar, der zeitlich ungedämpften, erzwungenen und phasenverschobenen Schwingung und einer durch das Signal angeregten, gedämpften freien Schwingung der Elektronen, von der auch nach dem Ende der äußeren Anregung ein Rückstand verbleibt. In der dem Artikel anschließenden Diskussion unterstützt
W. Voigt die Ausführungen von
Sommerfeld durch detaillierte Schilderung der mikroskopischen Elektronenbewegung auf der Grundlage der damals „modernen Theorie der Dispersion”. Die Ausführungen werden in den folgenden Jahren detaillierter ausgearbeitet.
Im Jahre 1912 veröffentlichte
Sommerfeld in der Festschrift anläßlich des siebzigsten Geburtstags von
Heinrich Weber eine umfassende Theorie „Über die Fortpflanzung des Lichtes in dispergierenden Medien”
[6] und versuchte diese nicht nur mathematisch sondern auch physikalisch plausibel zu machen, in dem Sinne wie es
Wien im Jahre 1907 indirekt forderte:
„... ich muß mich der Macht seiner mathematischen Analyse beugen, aber daß mir die Sache physikalisch klar geworden ist, kann ich doch nicht sagen.” Die Theorie umfaßt sowohl den normalen als auch den anomalen Fall der Dispersion, also auch den Spektralbereich womöglicher Überlichtgeschwindigkeit der Phase. Zur Erfüllung der aus der Relativitätstheorie geforderten Unmöglichkeit einer Ausbreitung von Signalen mit Überlichtgeschwindigkeit und dem damit verbundenen Kausalitätsprinzip bedient sich
Sommerfeld funktionentheoretischer Methoden, mit der diese Forderung elegant formuliert werden. Für das retardierte Einschwingverhalten des Signals an einem bestimmte Orten kurz nach dessen Ankunft gibt er eine Näherung mittels einer Bessel-Funktion an, den später nach ihm benannten „Vorläufer”.
Literaturverzeichnis
[1] Sellmeier, W. von: Zur Erklärung der abnormen Farbenfolge im Spectrum einiger Substanzen. Annalen der Physik und Chemie 1871 (6), S. 272-282.
[2] Stöckl, K.: Messungen über die Dispersion und Absorption von Lösungen anomal brechender Substanzen bis zu grossen Verdünnungen. Inaugural-Dissertation K. B. Ludwigs-Maximilians-Universität München, 1900.
[3] Laue, M.: Die Fortpflanzung der Strahlung in dispergierenden und absorbierenden Medien. Annalen der Physik 1905 (13), Band 18, S. 523-566.
[4] Einstein, A.: Über die vom Relativitätsprinzip geforderte Trägheit der Energie. Annalen der Physik 1907 (7), Band 23, S. 371-384.
[5] Sommerfeld, A.: Ein Einwand gegen die Relativitätstheorie der Elektrodynamik und seine Beseitigung. Physikalische Zeitschrift 1907 (8), No. 23, S. 841-842.
[6] Sommerfeld, A.: Über die Fortpflanzung des Lichtes in dispergierenden Medien. In: Festschrift Heinrich Weber zu seinem siebzigsten Geburtstag am 5. März gewidmet von Freunden und Schülern. B. G. Teubner 1912, S. 338-374.