Das Synatech - Institut für Synergetik und nachhaltige Technologien

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Gleichgewichtssinn, Bewegungs- und Lageempfindung des Menschen

Außer den fünf Sinnen (Licht-, Gehör-, Geschmack-, Geruch- und Hautsinne), von denen man sagt, man solle sie „beisammen haben“, gibt es eine ganze Reihe weiterer Sinnesorgane, die uns weniger ins Bewußtsein treten als die fünf klassischen Sinne. Dazu gehört der Gleichgewichtssinn und der Muskellagesinn, die eine wichtige Rolle für die Einstellung des Körpers im Raum und die Stellung der Glieder zueinander im Sinne einer entsprechenden Körperstellung spielen. Unser aufrechter Gang ist ein aktiver Prozeß des Bewegungs- und Lagesinns.

Der Gleichgewichtssinn (genannt das Vestibularsystem) ist ein komplizierter, aus verschiedenen vielfältig vernetzten neuronalen Strukturen bestehender Komplex, der das ZNS zu jedem Zeitpunkt über die aktuelle Kopfstellung im Raum informiert und über eine Aktivierung des motorischen Systems die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Gleichgewichtes sowie die Stabilisierung des Blickfeldes bei Änderung der Kopf- oder Körperstellung ermöglicht. Dabei erhält das Motoriksystem – das sind die Haltungs- und Bewegungsmuskeln der Extremitäten, des Rumpfes, des Halses und der Augen mit den sie innervierenden motorischen Neuronen vestibuläre Impulse nicht nur bei Lageänderung, sondern auch bei Bewegungsruhe. Dadurch werden die Muskeln in einem dauernden Spannungszustand (Tonus) gehalten.

Das Gleichgewichtsorgan

Das Gleichgewichtsorgan ist der periphere Teil des Vestibularsystems, er gehört zum inneren Ohr und bildet gemeinsam mit dem Hörorgan das häutige Labyrinth (s. Abbildung 1). Das Gleichgewichtsorgan besteht beiderseits aus zwei Makulaorganen und drei Bogengängen.

Häutiges Labyrinth
Abbildung 1. Häutiges Labyrinth
Präparation: Vera Ogunlade, Foto: Christian Hagel

Auf dem Bild sehen wir das häutige Labyrinth des Menschen. Horizontaler, vorderer und hinterer vertikaler Bogengang mit zugehörigen Ampullen sowie Utriculus und Sacculus gehören zum vestibulären Anteil des häutigen Labyrinthes. Die reizaufnehmenden Mechanorezeptoren sind sowohl in den Ampullen der drei BG als auch in den Maculae von Utriculus und Sacculus lokalisiert. Die Sinneszellen der Vestibularorgane haben einen charakteristischen Aufbau, sie besitzen an ihrem oberen Ende zahlreiche feine Härchen (Zilien). Das häutige Labyrinth ist mit einer Flüssigkeit angefüllt, der Endolymphe.

Das Bogengangssystem

Das Bogengangssystem ist nach der allgemein herrschenden Auffassung ein Organ, welches eine Drehung um jede beliebige Achse zu rezipieren gestattet.

An beiden Seiten des Kopfes stehen die 3 Bogengänge jeweils zueinander senkrecht, so daß sie in den 3 Raumebenen orientiert sind. Bei Drehbewegungen des Kopfes bewirkt die Endolymphe durch ihre Trägheit eine Deformierung der gelartig beschaffenen, dichtegleichen Cupulae in den Ampullen der Bogengänge. Mit der Verschiebung der Cupulae verbindet sich eine Scherung der Zilien auf den Rezeptorzellen. Die Scherung der Sinneshärchen bewirkt eine Erregung bzw. eine Hemmung der vestibulären Nerven.

Die Makulaorgane

In den beiden Makulaorganen enthält das gallertige Kissen (genannt Otolithenmembran), das auf den Sinneszellen aufliegt, zusätzliche feine Calcitsteinchen. Wird der Kopf geneigt, so findet eine Verschiebung der mit durchsetzten Otolithenmembran auf den Maculae statt. Der Grundmechanismus der Reizübertragung ist für Makula- und Bogengänge identisch. Nur aufgrund ihrer unterschiedlichen anatomischen Organisation können die Makulaorgane nicht die Winkel-, sondern Linearbeschleunigung, insbesondere die Schwerkraft, messen. Bei aufrechter Körper- und Kopfhaltung stehen die Macula sacculi ungefähr in senkrechter Stellung und die Macula utriculi nahezu waagerecht.

Funktion

Auch mit geschlossenen Augen können wir eindeutig die Richtung der Schwerkraft (Erdbeschleunigung) angeben. Es ist die Richtung, die wir als „unten“ empfinden. Mit geschlossenen Augen sind wir außerdem in der Lage festzustellen, ob der Kopf nach links, nach vorne oder nach hinten gedreht haben. Wir sind in der Lage festzustellen, ob wir stehen, liegen, oder sogar uns bewegen. Die Rezeptoren von Utriculus und Sacculus geben die Information, die vom ZNS zur Beurteilung der Stellung des Kopfes im Raum ausgewertet wird. Die Informationen von Muskel- und Gelenkrezeptoren Propriorezeptoren), besonders der Halsregion, sind notwendig, um dem ZNS eine eindeutige Interpretation der vestibulären Reize zu verhelfen. Aus den Gesamtinformationen kann das ZNS die Gesamtkörperhaltung berechnen. Dadurch werden ständig Muskelreflexe ausgelöst, die das Gleichgewicht erhalten und den aufrechten Gang des Menschen ermöglichen. Bei geöffneten Augen leistet auch das visuelle System einen Beitrag zu Bewegungs- und Lageempfindung.

Statische Reflexe

Die aufrechte Haltung ist ein aktiver Prozeß. Ohne eine gewisse aktive Anpassung von Rumpf- und Beinmuskeln würde der Mensch zusammensinken. Eine anhaltende Aktivität der Muskulatur (Muskeltonus) ändert sich, je nach dem wie die Körperpartien zueinander stehen (z.B. aufrechtes Stehen, gebeugte Haltung). Jede Änderung der Schwerkraft auf verschiedene Körperteile muß durch aktive Muskelkräfte kompensiert werden, um das Gleichgewicht zu erhalten. Der Muskeltonus wird reflektorisch gesteuert. Man spricht dabei von tonischen Stehreflexen.

Hält man einen einige Wochen alten Säugling in verschiedenen Körperstellungen, kann man beobachten, daß der Kopf so eingestellt wird, daß die Augenachse parallel zum Horizont verläuft. Dies geschieht auch bei geschlossenen Augen. Es handelt sich um Stellreflexe des Kopfes. Die Stehreflexe und die Stellreflexe werden durch eine Haltung ausgelöst, die als statische Reflexe zusammengefaßt sind.

Statokinetische Reflexe

Diese Reflexe werden nicht durch eine Haltung, sondern durch eine Bewegung ausgelöst.

Die Rezeptoren von Utriculus und Sacculus veranlassen die Korrekturbewegungen bei Linearbeschleunigung, z.B. bei Anfahren eines Aufzuges nach oben Beugung und nach unten Streckung der Gliedmaßen.

Die Rezeptoren des Bogengangssystem lösen bei Winkelbeschleunigungen die Korrekturbewegungen der Augen (sog. vestibulärer Nystagmus) und Hals- sowie Gliedmaßenmuskulatur aus. Eine rasche Drehung des Körpers um seine Achse nach links führt zu Streckung der rechten und Beugung der linken Gliedmaßen.

Kinetosen (See-, Luft-, Fahrkrankheiten)

Wenn das Gleichgewichtsorgan durch unregelmäßige Beschleunigung, wie Schlingern, Rollen, rasches Bremsen usw. gereizt wird, kann man „seekrank“ werden, was mit Übelkeit, Erbrechen, Blutdruckabfall und Schweißausbrüchen einhergehen kann. Die gleichen Symptome können bei Diskrepanzen zwischen optischen Eindruck und vestibulären Empfindungen (z.B. im Flugzeug: das Auge sieht den Innenraum in Ruhe, das Gleichgewichtsorgan registriert die Auf- und Abwärtsbeschleunigungen des Flugzeuges) in Erscheinung treten. Diese Krankheiten, die bei Reisen mit dem Auto, der Bahn, im Flugzeug und besonders mit Schiffen auftreten und nach dem Ende der Reise verschwinden, nennt man Kinetosen. Sie sind willensmäßig nicht zu beeinflussen.

Schwerelosigkeit

Bei Weltraumfahrten ist die Schwerelosigkeit eines der wichtigsten medizinischen Probleme. Da der größte Teil des Muskeltonus vom Gleichgewichtsorgan aus gesteuert wird, vermindert die langdauernde Schwerelosigkeit den Muskeltonus so stark, das es ohne tägliches Muskeltraining zum Muskelschwund (Atrophie) kommt.

Störungen

Schwindel ist eines der häufigsten Symptome, dessentwegen Patienten einen Arzt aufsuchen. Handelt es sich um Drehschwindel, Liftschwindel oder Gangabweichungen, kann es mit ziemlicher Sicherheit mit einer Erkrankung des Bewegungs- oder Lagesinns in Verbindung stehen.

Störungen oder ein Ausfall des Gleichgewichtsorgans können zu Fallneigung, bis hin zur Unmöglichkeit aufzustehen führen.


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