1 Einführung

„Everybody wondered (and still wonders) why the Stockholm committee systematically ignored Sommerfeld’s pioneer work in modern physics. Such an omission is actually impossible to understand.” Léon Brillouin, 1959 ([4], Vorwort)
Die Gruppengeschwindigkeit beschreibt im normal dispersiven Fall und insbesondere im linearen Abhängigkeitsbereich der Wellenzahl von der Frequenz die Ausbreitung eines Signals und der darin enthaltenen Energie. Da aber im Fall der anomalen Dispersion die üblichen Definitionen der Phasengeschwindigkeit und der Gruppengeschwindigkeit für die Signalausbreitung wegen der möglichen Überlichtgeschwindigkeit keinen Sinn machten, führte Sommerfeld den Begriff der Signalgeschwindigkeit ein, welche sich auf die Ausbreitung der Energie einer elektromagnetischen Welle bezieht und als meßbare Größe mit einem Detektor bestimmt werden kann. Er machte plausibel, daß das Signal unabhängig vom Material stets mit Vakuumlichtgeschwindigkeit mit anfangs kaum meßbarer, jedoch zunehmender Intensität am Meßort eintrifft. Für das zeitliche Einschwingverhalten prägte Sommerfeld den Begriff des „Vorläufers” – eine Analogie zur Seismik – und fand mittels der Bessel-Funktion eine asymptotische Lösung („Sommerfeldscher Vorläufer”). Merklich größere Intensität erlangt das Signal erst später, wobei sich das Übergangsverhalten zum stationären Schwingungszustand kompliziert gestaltet.
Die erste umfassende Darstellung wurden 1912 in [1] veröffentlicht. Unter dem Titel „Über die Fortpflanzung des Lichtes in dispergierenden Medien” wurden diese Arbeit im Jahre 1914 in [2] zusammenfaßt und ergänzt. In einem identisch lautenden, hieran anschließenden Teil, führte Brillouin [3] die Arbeiten Sommerfelds auf dessen Anregung weiter. So konnte Brillouin mittels der aus der komplexen Funktionentheorie bekannten Sattelpunktmethode das zeitliche Verhalten für Anregungsfrequenzen viel kleiner als die Absorptionsfrequenz in einem größeren Zeitbereich beschreiben und weitere Vorläufer als signifikaten Änderungen definieren. Mit dem Zeitpunkt, in dem der sich in der komplexen Frequenzebene bewegende Sattelpunkt den Punkt der Anregungsfrequenz erreicht und damit die Projektion der Fallinie im Sattelpunktes den Punkt der Anregungsfrequenz schneidet, wurde von ihm auch ein Kriterium für das Erreichen des Signals am Ort der Messung gefunden und damit indirekt eine Definition der Signalgeschwindigkeit angeben, die bis dahin wegen der Unschärfe der Begriffsbildung ausblieb. Er konnte zeigen, daß die Gruppengeschwindigkeit mit der Signalgeschwindigkeit in einem Bereich fernab der Resonanzfrequenz nahezu gleich ist. In der Umgebung des Absorptionsstreifens charakterisiert die Gruppengeschwindigkeit jedoch nicht mehr die Ausbreitung eines Signals.
Die „klassische” Sichtweise ohne Berücksichtigung der Quantentheorie scheint auch heute für viele praktische Probleme ausreichend zu sein. Die Erkenntnisse über die Ausbreitung von Signalen bzw. von Information in Medien, deren Brechungsindex bzw. deren relative Permittivität oder Permeabilität von der Frequenz der elektromagnetischen Trägerwelle abhängt, sind u. a. bei der Ausbreitung von Radiowellen, beim Radar und für die Anwendung in der Kommunikations- und Informationstechnologie [4] von Bedeutung. Die Vorhersagen von Sommerfeld und von Brillouin zur Signalentwicklung wie die Bildung von sogenannten Vorläufern konnte experimentell in unterschiedlichen Frequenzbereichen wie etwa für Mikrowellen in bestimmten Medien nachgewiesen werden [5]. Für die Messung von Signallaufzeiten in Systemen, bei denen der Start einer Messung bzw. dessen Ende durch eine entsprechende Information (z. B. mittels eines Pulses) ausgelöst wird, sollte die Theorie gleichfalls von Interesse sein. Durch die Wechselwirkung mit dem Medium kann sich das ursprüngliche Start- bzw. das Stoppsignal nicht nur in seiner Form ändern, sondern auch in der Phase.
Man erhofft sich auch über unterschiedliche optische Eigenschaften des Wellenleiters, Signale im Laufzeitverhalten – ohne die zeitverzögernde und zudem zusätzlich energieverbrauchende zwischenzeitliche Umwandlung in elektronische Signale – durch „Schalter” beeinflussen zu können, um so die Übertragung von Information über verschiedene Kanäle zu optimieren [6]. Die praktische Herausforderung besteht nicht nur darin, daß eine zeitliche begrenzte Informationseinheit wie ein Puls aus sehr vielen Frequenzen zusammengesetzt sein muß, was wegen der technisch begrenzen Bandbreite nur bedingt möglich ist und sich jene nur im Gültigkeitsbereich einer linearen Dispersionsbeziehung mit einheitlicher Gruppengeschwindigkeit ausbreiten kann, sondern auch darin, und das ist die Erkenntnis von Sommerfeld und Brillouin, daß dieses Informationswellenpaket wegen der Wechselwirkung mit dem Medium durch komplexe vorauseilendes Einschalt- und nachwirkendes Ausschaltschwingungen überlagert ist, welches sich insbesondere an den Pulsflanken bemerkbar machen sollte und daher die zulässige Pulsbreite und den Pulsabstand nach unten begrenzt. Noch komplizierter sollten sich die Ausbreitungsbedingungen gestalten, wenn man Frequenzen nahe der Resonanzfrequenz des Mediums oder den Frequenzbereich anomaler Dispersion im Absorptionsband bzw. der „Bandlücke” nutzen will, was nach der stationären Wellentheorie eigentlich unmöglich wäre.
Die ursprüngliche Theorie der Signalausbreitung für elektromagnetische Wellen ist sicher auch für andere Wellentypen von Interesse – allgemein in solchen Fällen, wo eine vorauseilende Primäranregung mit maximaler Ausbreitungsgeschwindigkeit mit dem Medium in Wechselwirkungen tritt, infolge dessen dieses zum Schwingen angeregt wird und so sekundäre Wellen erzeugt werden, wodurch es schließlich zu komplexen Überlagerungen kommt. In diesen Medien wird eine zur Elektrodynamik analoge Dispersionsbeziehung die Wellenzahlabhängigkeit der Frequenz als Lösungsbedingung der zugehörigen Wellengleichung beschreiben.

Literaturverzeichnis

[1] Sommerfeld, A.: Über die Fortpflanzung des Lichtes in dispergierenden Medien. In: Festschrift Heinrich Weber zu seinem siebzigsten Geburtstag am 5. März gewidmet von Freunden und Schülern. B. G. Teubner 1912, S. 338-374.

[2] Sommerfeld, A.: Über die Fortpflanzung des Lichtes in dispergierenden Medien. Annalen der Physik 1914 (10), Band 349, S. 177-202.

[3] Brillouin, L.: Über die Fortpflanzung des Lichtes in dispergierenden Medien. Annalen der Physik 1914 (10), Band 349, S. 203-240.

[4] Brillouin, L.: Wave propagation and group velocity. Academic Press New York and London, 1960.

[5] Pleshko, P.; Palócz, I.: Experimental observation of Sommerfeld and Brillouin precursors in the microwave domain. Phys. Rev. Lett. 22 (1969) 22, S. 1201-1204.

[6] Thévenaz, L.; Schneider, T.: Der Licht-Turbo – mehr Tempo für Datennetze. Spektrum der Wissenschaft (2) 2012, S. 48-56.