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Die Physik des Ganges

Nichtlineare Dynamik und Stabilität

Es ist schon verblüffend, welche Ähnlichkeit der Gang des Menschen mit der Bewegung eines Pendels, etwa eines Uhrenpendels, hat. Diese Analogie wurde schon frühzeitig in der Geschichte erkannt. Eine weiterführende physikalische Beschreibung stellt selbst heute eine reizvolle, weil noch ungelöste, Aufgabe dar. Durch die in den letzten Jahrzehnten und Jahren entwickelten Erkenntnisse über das Chaos wurden neue Methoden zur Untersuchung des Ganges geschaffen.

Die einfachste Form des Ganges mit kleinen Schritten und geringer Geschwindigkeit, das Pendelgehen, läßt sich durch die harmonische Schwingung eines Pendels beschreiben, wobei die Beine einfach durch starre Stäbe ersetzt werden. Der Schrittwinkel beschreibt dann in seinem zeitlichen Verlauf die wohlbekannte Sinusschwingung. Lineare Zusammensetzungen dieser einfachen harmonischen Bewegung lassen wieder reguläre Gangformen zu – Tänze, die sich musikalisch bestimmten Zeittakten zuordnen lassen.

Der reale Bewegungsapparat ist mehrgliedrig und massiv aufgebaut. Gerade bei schnellen Bewegungsformen wird dies bemerkbar. Nicht zuletzt kann das Stolpern zu einem ernsten Problem werden, und Lösungsversuche können bei jedem sehr unterschiedlich ausfallen. Selbst die Körperhaltung bzw. seine Neigung stellt einen nicht zu unterschätzenden Faktor dar. Bisher wurde der Mehrgliedrigkeit durch die Physik, nicht zuletzt wegen der Komplexität und Nichtlinearität der physikalischen Gleichungen, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. So wurde das Doppelpendel in seiner Bewegungsvielfalt erst in den letzten 10 Jahren untersucht, das Dreifachpendel erst seit kurzem. Möglich wurde dieser Fortschritt erst durch die Erfolge der Computertechnik und die Erkenntnisse der Chaosforschung. Doch gerade die Nichtlinearität verschafft dem Gang die reiche Bewegungsvielfalt und läßt sich auch grafisch eindrucksvoll verdeutlichen (Phasenraumprojektionen, Poincaré-Schnitte). Neben der Synchronität tritt nun auch die asynchrone (chaotische) Schrittbewegung.

Tafel: Die Physik des Ganges - Nichtlineare Dynamik und Stabilität

links, von oben:

Abb. 1. Pendelgehen (langsames Gehen)

Abb. 2. Das getriebene Pendel. Durch Zufuhr von Energie über die Bewegung des Aufhängepunktes η(t) kann das Verhalten des Pendels über die Wahl der Parameter D, w gesteuert werden. Auch ein senkrechtes Stehen des Pendels kann erreicht werden.

Abb. 3. Die Abbildungen zeigen den zeitlichen Verlauf der Auslenkung, die Phasenraumabbildung (Ort-Geschwindig­keit) und den Energieverlauf für verschiedene Parameter.

Abb. 4. Modelproblem der Steuerung des zweibeinigen Gehens. Ein starrer Körper mit einem Paar masseloser Beine ohne Füße modelliert einen Zweibeineapparat. Die Gehbewegung bestehe nur aus Stützphasen mit jeweils einem Bein. Der Kontakt eines Beines mit dem Boden sei punktförmig.

mitte, oben: Harmonischer Gang bei kleinen Schritten

mitte, unten: Prinzipieller Modellauf­bau zur Stabilisierung des invertierten Dreifachpendels

rechts, von oben:

Abb. 1. Poincaré-Schnitt für ein ebenes Doppelpendel bei hoher Energie

Abb. 2. Modell des mathematischen Dreifachpendels

Abb. 3. Zeitverzögerte Koordinatendarstellung x(t)-x(t-t') für den unteren Arm des Dreifachpendels. Das „Knäuel“ für die harmonischen Bewegung (links) zeigt eine geordnete Aufwicklung, wohingegen das chaotische Bewegungsregime (rechts) als ein verworrenes Gespinst erscheint.

Abb. 4. Das Bild zeigt eine Reihe von Energiekurven, die nach Lagrange-Gleichungen für mehrgliedrige Modelle beim Gehen und Laufen mit Konstantschritten errechnet wurden.

Abb. 5. Spontane Körperschwankungen im Stehen, gemessen als Bewegungen des Schwerpunktes; links komponentenweise, rechts zweidimensional. Die Kurven Sx und SY sind scheinbar zufällig bzw. fraktal.

Vorführung am Dreifachpendel
Foto: Der Initiator der Ausstellung, Dr. Wolfgang Eisenberg, bei der Vorführung von Bewegungsformen am Dreifachpendel.
Dreifachpendel der Bremer Univerität
Foto: Das Dreifachpendel als Symbol vor der Bremer Universität.

Energieaufwand

Unsere Fortbewegung ist durch einen spezifischen Energieaufwand geprägt. Dieser richtet sich grob danach, welchen Gang Sie einlegen. Durch eine angepaßte Körperhaltung gelingt es, diesen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Der Alltags- bzw. Spaziergang (Geschwindigkeit von ca. 4,5 km/h) erfordert von einem Durchschnittsmenschen etwa eine Leistung von 100 W. Dagegen ist der Lauf mit 14,5 km/h durch einen Aufwand von 1500 W charakterisiert! Auch die zu bewegende Masse beeinflußt den Energieverbrauch sehr wesentlich. Der Tyrannosaurus, auch ein Zweibeiner, mußte eine Leistung von 150 kW beim schnellen Gehen zur Verfügung stellen. Diese Energiemenge muß durch ausreichende Nahrungszufuhr erst einmal bereitgestellt werden.

Stabilität

Aus der Erfahrung ist uns bekannt, daß ein Tisch mit seinen 4 Beinen stabil steht, er kippt nicht bei kleinen Berührungen um. Auch viele Tiere (Vierbeiner) bevorzugen dieses stabile Verhalten zur Fortbewegung. So stellt der Mensch als Zweibeiner mit seiner Art der Fortbewegung eine seltene wenn auch nicht einzige Ausnahme dar. Gäbe es keine Steuerung durch Muskeln oder Nerven-zellen, so würde eine stehende Haltung zum Zusammenbrechen führen, Haltungsschäden sind auf dieses instabile Verhalten zurückzuführen. Diese schwierige Aufgabe können Sie sich beim Balancieren eines Zeigestockes selbst verdeutlichen. Auch die Physik untersucht dieses Stabilisierungs- und Steuerproblem, indem sie z. B. versucht, senkrecht stehende getriebene Pendel, ja sogar Mehrfachpendel, durch gezielte Energie- bzw. Impulszufuhr zu stabilisieren. Eines Tages könnten sogar dynamische Gangformen oder -muster gesteuert werden, was sowohl für die Medizin (Orthopädie) als auch für die Technik (Robotik, Gehmaschine) von Nutzen sein wird.

Die Stabilisierung des Stehens, z. B. des Körperschwerpunktes, wird durch einen hoch komplexen Regulierungsprozeß beschrieben. Versuchen Sie doch einmal, mit geschlossenen Augen eine längere Zeit senkrecht zu stehen! Ähnlich der Zufallswanderung eines mikroskopischen Teilchens (Diffusion) scheint die zeitliche Auslenkung vom mittleren Standpunkt dem Zufall zu gehorchen. Womöglich ist die zeitlich aufgezeichnete Bahnspur zerklüftet bzw. fraktal (siehe Abbildung). Noch drastischer wirkt sich das beschriebene Stabilisierungsverhalten bei einem Betrunkenen aus, bei welchem wir wesentlich größere Schwankungen der Gleichgewichtslage beobachten können, was zu einem typischen irregulären Gang (engl. random walk, Seemannsgang) führt. Im Unglücksfall stolpert er und handelt sich einen Knochenbruch ein. Auch dieser ist … fraktal!


© 2015  Dr. Uwe Renner