Zur Energetik – Versuch einer Begriffsbestimmung
von Klaus Vogelsang, Leipzig
Zusammenfassung
1. Sprachliches
Energetik ist aus dem Griechischen entlehnt und hängt mit Energie zusammen: „Wirksamkeit, wirkende Kraft“. Energie wird ins Französische entlehnt und von dort in der ersten Hälfte des 18. Jhs. ins Deutsche übernommen, hauptsächlich in der Bedeutung „dem Menschen eigene/innewohnende oder von ihm entwickelte Kraft oder Fähigkeit, etwas auszuführen, zu gestalten oder zu leisten“. Im Englischen findet sich energy bereits im 16., energetic (im Sinne von „energisch“) im 17. Jahrhundert; energetics als Lehre oder Wissenschaft von der Energie wird 1855 von W. Rankine definiert.
In heutigen Wörterbüchern findet sich Energetik in mehreren Bedeutungen:
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Physik: Lehre von der Energie und ihrer Umwandlung (damit auch in andere Naturwissenschaften übergreifend).
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Philos.: Lehre, dass die Energie die Grundkraft allen Seins und Geschehens sei.
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Technik: Wissenschaft von der Bereitstellung, Verteilung und Verwendung von Nutzenergiearten.
Wegen dieser unterschiedlichen Bedeutung des Begriffes Energetik ist bei der Kommunikation darauf zu achten, was jeweils gemeint ist!
Aristoteles (384– 322 v. Chr.) führte den Begriff energeia (Tätigkeit, Wirklichkeit) zum Unterschied von dynamis (Möglichkeit, Potenz) ein. Er spricht auch von einer Erhaltung des Ganzen bei Veränderung der Teile. — Lukrez (um 96– 55 v. Chr.) vertritt die Auffassung, dass Atome weder neu erzeugt noch zerstört werden können, was dem Energieerhaltungssatz entspricht. — Christiaan Huygens (1629– 1695) fand 1673 das Gesetz von der Erhaltung der „lebendigen Kräfte“ (Energieerhaltungssatz) in der Mechanik. — Gottfried Wilhelm Leibniz (1646– 1716) erkannte das Produkt aus der Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit (mv²) als maßgebend für die „lebendige Kraft“ (Maß der Bewegung, heute als kinetische Energie bekannt) und fand 1693 das Gesetz von der Erhaltung der mechanischen Energie. — Johann Bernoulli (1667– 1748) schrieb an Leibniz, die lebendige Kraft müsste besser „Wirkungsfähigkeit“ („facultas agendi“, „pouvoir“) genannt werden; sie sei etwas Absolutes, Substantielles, was für sich besteht, für sich eine Menge ist und von nichts anderem abhängt. Es könne von der lebendigen Kraft nichts verloren gehen, was nicht in der hervorgebrachten Wirkung wieder erschiene. … — „Dieses ist, was wir Erhaltung der lebendigen Kraft nennen.“ — Joseph Louis de Lagrange (1736– 1813) formuliert den Satz von der „Erhaltung der Kraft“ T + V = const. — Der englische Physiker und Arzt Thomas Young (1773– 1829) führte 1807 den Begriff Energie für „lebendige Kräfte“ ein. — Sir Humphry Davy (1778– 1829) führte 1799 Untersuchungen zur Bestätigung des Energieerhaltungssatzes durch. 1813 benutzte er den Begriff Energie. — Der französische Physiker und Ingenieur Gaspard Gustave de Coriolis (1792– 1843) gab als Erster eine (im heutigen Sinne) exakte Definition der Begriffe kinetische Energie und mechanische Arbeit. — Jean Victor Poncelet (1788– 1867) definierte um 1829 den Begriff Arbeit; er wendete das „Prinzip der lebendigen Kraft“ konsequent auf die Maschinenbewegung an. — Julius Robert Mayer (1814– 1878) erkannte 1842 die Äquivalenz von mechanischer Arbeit und Wärme (1. Hauptsatz der Thermodynamik) und berechnete (1845) das mechanische Wärmeäquivalent aus der Differenz der spezifischen Wärmen von Gasen; formulierte in diesem Zusammenhang 1845 das Gesetz von der Erhaltung der Energie. — James Prescott Joule (1818–1889) fand 1843 (unabhängig von J. R. von Mayer und H. L. F. von Helmholtz) den Erhaltungssatz der Energie und bestimmte 1843 als erster exakt das mechanische Wärmeäquivalent. — Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz (1821– 1894) beschäftigte sich mit der Muskelarbeit und der Wärmeproduktion des Muskels und gelangte von dort (unabhängig von J. R. von Mayer und J. P. Joule) zu einer exakten Begründung des Gesetzes der Erhaltung der Energie (Über die Erhaltung der Kraft, 1847). — William Thomson (Lord Kelvin; 1824– 1907) führte 1851/52 (neben Rankine) die Bezeichnung Energie als Verallgemeinerung des bis dahin verwendeten Begriffes „lebendige Kraft“ (vis viva) in die Physik ein.
William John Macquorn Rankine (1820– 1872) definierte 1855 die Energetik als Lehre von den Gesetzmäßigkeiten und den Umwandlungen der Energie. Der Ausdruck wurde nun allgemein anerkannt. — Der irische Physiker John Tyndall (1820– 1893) benutzte die Begriffe energetisch 1860 und Energie 1863. — Der Amerikaner Josiah Willard Gibbs (1839– 1903) lieferte bahnbrechende Arbeiten zur Thermodynamik. — Der Dresdner Mathematikprofessor Georg Helm (1851– 1923) veröffentlicht in Leipziger Verlagen seine Bücher „Lehre von der Energie“ (1887) und „Die Energetik nach ihrer geschichtlichen Entwicklung“ (1898). Noch vor Wilhelm Ostwald legte er seine Ideen des Energetismus als einer naturphilosophischen Richtung dar. — In Leipzig begründete Wilhelm Ostwald (1853– 1932) die physikalische Chemie. Seine Energetik führte ihn zu naturphilosophischen Auffassungen (Monismus), derentwegen er stark angegriffen wurde. — Der Mediziner Max Rubner (1854– 1932) wies durch direkte und indirekte Kalorimetrie die Gültigkeit des Energieerhaltungssatzes auch für den tierischen Stoffwechsel nach. — Albert Einstein (1879– 1955) erkannte 1906 den Zusammenhang zwischen Energie und Masse: Mit dem Energieinhalt eines Körpers wächst gleichzeitig seine Masse proportional an. — Der Biochemiker und Physiologe Otto Meyerhof (1884– 1951; Nobelpreis für Medizin 1922) erklärte die chemischen Vorgänge bei den Energieumsätzen im Muskel; sein Hauptwerk Zur Energetik der Zellvorgänge erschien 1913.
Der österreichische Meeresforscher Hans Hass entwickelte die „Energon-Theorie“ (veröffentlicht 1970), in der er Evolutionsbiologie und Thermodynamik miteinander zu verbinden sucht. Sie wurde von der akademischen Wissenschaft nicht rezipiert und gilt als pseudowissenschaftlich. Hass definiert die aus Zellen bestehenden Organe des Menschen als Funktionsträger und rechnet die Produkte der Technik als zusätzliche Organe, die nach Bedarf ausgetauscht werden können, dem Individuum hinzu. — Der amerikanische Ökologe Howard Thomas Odum (1924– 2002) ergänzt die bekannten Hauptsätze der Thermodynamik zu sechs principles of energetics.
3.1 Energetik und Physik
Der Begriff Energetik gehört nicht zum Fachwortschatz der Physik, doch findet sie als Lehre von der Energie und deren Umwandlungen in allen Teildisziplinen der Physik Anwendung. Die Energie ist das Arbeitsvermögen physikalischer Systeme; gemäß der Klassifizierung dieser Systeme unterscheidet man mechanische Energie (kinetische oder Bewegungsenergie und potentielle oder Lageenergie), elektrische und magnetische Energie bzw. elektromagnetische Energie, thermodynamische oder Wärmeenergie, Deformations- und Formänderungsenergie und ferner noch verschiedene Formen der Bindungsenergie, wie chemische Energie und Kernenergie.
Energie gehört zu den fundamentalen Begriffen der gesamten Physik.
3.2 Energetik und Chemie
Die chemische Energetik ist im Wesentlichen Thermodynamik. Hier spielen die Zustandsfunktionen innere Energie (U), freie oder Helmholtz-Energie (A) u. Gibbs-Energie (freie Enthalpie, G) eine besondere Rolle: A = U – TS; G = H – TS. Grundlegend ist der Energieerhaltungssatz in der Fassung als 1. Hauptsatz der Thermodynamik: ΔU = Q + W.
Die chemische Thermodynamik beschreibt die Zusammenhänge zwischen den Zustands- und Prozessgrößen, die bei chemischen Reaktionen eine Rolle spielen.
3.3 Energetik und Biologie
Als Bioenergetik wird ein Teilgebiet der Biophysik bezeichnet, das ein biologisches System als physikalisch-chemisches System betrachtet und thermodynamisch beschreibt. — Die Bioenergetik untersucht auch die Prozesse der Energiekonvertierung in biologischen Systemen.
Auch in anderem Sinne wird bzw. wurde das energetische Prinzip in den Lebenswissenschaften verwendet: Mit seinem 1948 erschienen Buch Über psychische Energetik und das Wesen der Träume dokumentiert C. G. Jung die Theorie der Libido.
3.4 Energetik und Technik
Hier sind zwei ganz verschiedene Anwendungsbereiche des Begriffes Energetik zu unterscheiden: 1. die Anwendung des Energieprinzips aus der Physik in den Ingenieurwissenschaften und 2. die Bereitstellung, Verteilung und Verwendung von Nutzenergiearten.
Als Energietechnik bezeichnet man die technisch angewendete Energetik, die eine große Zahl technischer Disziplinen zum Zwecke der optimalen energetischen Umwandlung der Rohenergie in Gebrauchs- und Nutzenergie sowie deren Transport, die Konstruktion und den technischen Betrieb der hierzu erforderlichen Verfahren und Geräte umfasst.
3.5 Energetik und Philosophie
Der universale Begriff der Energie, der in der damaligen Physik und Thermodynamik große Erfolge brachte, beherrschte für Wilhelm Ostwald auch die Biologie und Psychologie und sogar die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften (Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften 1909; Philosophie der Werte 1913); Ostwald formulierte den „energetischen Imperativ“: „Vergeude keine Energie, veredle sie!“ In seinem Denken berührte sich Ostwald mit Auguste Comte, Ernst Mach und Ernst Haeckel, dessen „Monistenbund“ er seit 1911 leitete. Aus seinen Ansichten entwickelte sich auch der sog. soziale Energetismus, der von Ernest Solvay (1838– 1922) weiter ausgebaut wurde.
Als naturphilosophisches System hat der Ostwald’sche Energetismus heute nur noch geschichtliches Interesse.
Die Begriffe Energetik und energetisch findet man auch auf anderen als den bisher genannten Gebieten.
So ist das Energieprinzip in den angewandten Naturwissenschaften wie Geologie, Meteorologie, Klimatologie heute eine der Grundlagen für die Betrachtung von Naturvorgängen und globalen Entwicklungen. Auch die Alternativmedizin setzt auf diesen Begriff: Die Psychosomatische Energetik ist der Name für ein alternativmedizinisches Verfahren, sie plädiert für eine neue Sicht von Krankheiten und Heilung. Dabei will sie den Körper, die Seele und die Lebensenergie berücksichtigen.
Weitere Stichworte: CORE Energetik — Matrix Energetics — Aqua-Energetik — Tri-Energetik — Klang-Energetik — Informations-Energetik — Monitäre Energetik
Unter Energetik lassen sich auch die bedeutsamen globalen Probleme der Energieversorgung der Menschheit behandeln.
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